Sonntag, 24. Januar 2021

Psychologische Gutachten in Familiengerichtsverfahren - das Beweisthema und die Hypothesenprüfung (Teil 1)

Im Familiengerichtsverfahren werden Sachverständigengutachten eingeholt, wenn das Gericht psychologische /psychiatrische Fragestellungen unter Inanspruchnahme wissenschaftlicher Fachexpertise beantwortet haben möchte. Im übertragenen Sinne findet eine wissenschaftliche Untersuchung bezogen auf einen Einzelfall statt. Diese wissenschaftliche Untersuchung bedient sich jener Methoden, welche die jeweils zugrunde liegende Wissenschaftsdisziplin ihren Forschungen zugrunde legt.

PsychologInnen arbeiten mit "Forschungsfragen". PsychologInnen bedienen sich zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen unterschiedlicher Methoden. Die genutzten Methoden werden in der wissenschaftlichen Psychologie hinsichtlich ihrer Objektivität, Zuverlässigkeit und Wiederholbarkeit eingeteilt. Auf diesen sehr bedeutsamen Gesichtspunkt komme ich in einem speziellen Beitrag zurück.

Die sog. "Hypothesenprüfung" ist dabei das Kernstück eines jeden Gutachtens. Zu Beginn eines jeden Gutachtens werden Annahmen formuliert, welche mit wissenschaftlichen Methoden zu prüfen sind.(vgl. Peter Sedlmeier, Frank Renkewitz: "Forschungsmethoden und Statistik in der Psychologie" Pearson Studium, 2008, Seite 42 ff.)

Das Beweisthema benennt das Gericht in der Regel in "juristischer Sprache".  Die gerichtliche Fragestellung übersetzt der jeweilige Sachverständige in seine "Wissenschaftssprache". Ist eine solche Übersetzung, z.B. aufgrund fehlender wissenschaftlicher Erkenntnisse oder der Unmöglichkeit die Frage mit wissenschaftlichen Methoden beantworten zu können, nicht möglich, so hat der beauftragte Sachverständige diesen Umstand dem Gericht mitzuteilen. (vgl. § 407a Abs. 4, Satz 1 ZPO: "(4) 1Hat der Sachverständige Zweifel an Inhalt und Umfang des Auftrages, so hat er unverzüglich eine Klärung durch das Gericht herbeizuführen.").

Ähnliches gilt, wenn die Beweisfrage des Gerichts nicht mit Hilfe der Fachexpertise des Sachverständigen beantwortet werden kann, weil die gestellte Frage außerhalb der wissenschaftlichen Kenntnisse des Sachverständigen liegt. (vgl. § 407a Abs. 1, Satz 1 ZPO: " (1) 1Der Sachverständige hat unverzüglich zu prüfen, ob der Auftrag in sein Fachgebiet fällt und ohne die Hinzuziehung weiterer Sachverständiger sowie innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist erledigt werden kann. 2Ist das nicht der Fall, so hat der Sachverständige das Gericht unverzüglich zu verständigen.)

Fällt die Beweisfrage in das Fachgebiet des Sachverständigen, beginnt der Sachverständige zuerst mit der "Übersetzung" des gerichtlichen Beweisthemas in Beweisfragen seines Fachgebiets:

Ein Psychologe formuliert umgangssprachlich ausgedrückt "Psychologische Fragen", indem der Sachverständige die gerichtliche Frage in geeignete zu untersuchende, wissenschaftlich formulierte Fragen "übersetzt".

Sachverständige Expertise unterscheidet sich dabei in besonderer Weise von "laienhaften" Auffassungen dadurch,  dass Sachverständige ihre Fragen aus wissenschaftlichen, d.h. bewiesenen Theorien ableiten:

Ein Beispiel aus der Lernpsychologie:

SchülerInnen behaupten gerne, dass sie besser lernen könnten, wenn sie währenddessen Musik hören würden. Daraus lassen sich zwei Grundannahmen = Hypothesen ableiten.

1. Hypothese (= Annahme):  Schüler lernen ohne Musik besser.

Das ist die Nullhypothese. Der Name "Nullhypothese" meint dabei, dass die Annahme noch nicht bewiesen und deshalb unwahr ist. (= 0). 

2. Hypothese (= Annahme): Schüler lernen mit Musik besser, als ohne.

Das ist die Alternativhypothese .Die Alternativhypothese ist in der Regel die gegenteilige Annahme der Nullhypothese.Denkbar ist, dass es nicht nur eine, sondern mehrere Alternativhypothesen geben kann.

Hier finden Sie ein weiteres leicht verständliches Beispiel:

Hypothesentest Einleitung

Eine der häufigsten Fragestellungen an psychologische Sachverständige in Familiengerichtsverfahren ist die Frage, ob Eltern(-teile) erziehungsfähig sind, oder nicht.

Hier wäre die 

Nullhypothese (H_0) die Feststellung: "Die Eltern sind erziehungsfähig" und die 

Alternativhypothese (H_1)"Die Eltern sind nicht erziehungsfähig". 

Zu dieser Frage wären auch weitere Alternativhypothesen (H-2 und H-3) denkbar: "Die Eltern sind eingeschränkt erziehungsfähig" oder "leicht eingeschränkt", "stark eingeschränkt" erziehungsfähig.....

Hier: https://studyflix.de/statistik/nullhypothese-1586 wird das Thema für Schüler erklärt. Dieses Wissen erwerben Abiturienten im Fach Mathematik. Wer Psychologie studiert beschäftigt sich damit erneut, wenn es um das Thema Statistik und Forschungsmethoden in der Psychologie geht. Die Anwendung wissenschaftlicher Methoden unterscheidet einen Sachverständign von einem Laien.

Das heißt auch: Für Sachverständige ist diese Vorgehensweise zwingend notwendig, wenn sie ein Sachverständigengutachten auf wissenschaftlicher Basis ihres Faches erstellen. In der forensischen  oder (Rechts-) Psychologie (ein Fachbereich der angewandten Psychologie (im Unterschied zur wissenschaftlichen Psychologie)) wird die Bildung von Hypothesen auch als die "Formulierung psychologischer Fragen" bezeichnet.

 

EXKURS: 

Das beliebte Beweisthema "Erziehungsfähigkeit" und das Problem der psychologischen Fragen

Nachdem der Sachverständige aus der richterlichen Fragestellung seine "Arbeits-"hypothesen abgeleitet hat, muss er sich in einem weiteren Schritt Gedanken darüber machen,  anhand welcher psychologischen Merkmale (genannt "Variablen") er z.B. "Erziehungsfähigkeit" messen möchte.

Ein Psychologe bedient sich dazu psychologischer Theorien, welche auf der Grundlage von psychologischen Forschungserkenntnissen gebildet worden sind. Er fragt sich also:

1. Was versteht die wissenschaftliche Psychologie unter Erziehung?

2. Was versteht die wissenschaftliche Psychologie unter Erziehungsfähigkeit?

Fachlich ausgedrückt, werden zunächst das festzustellende Merkmal "Erziehungsfähigkeit" definiert. Es muss zuerst geklärt werden, was sich ein Psychologe überhaupt unter dem Wort "Erziehungsfähigkeit" vorstellt.

Ich selbst habe noch kein einziges psychologisches Sachverständigengutachten zu lesen bekommen, in welchem erklärt wird, was PsychologInnen unter dem Begriff "Erziehungsfähigkeit" verstehen.

Dies hat auch seinen guten Grund. Denn die wissenschaftliche Psychologie kennt diesen Begriff überhaupt nicht !!

Da die Erziehungswissenschaft eigentlich jene Wissenschaft ist, welche sich ganz speziell mit allen Fragen der Erziehung befasst, könnten vielleicht Erziehungswissenschaftler wissen, was unter "Erziehungsfähigkeit" in der Erziehungswissenschaft verstanden wird?

Jedoch: Auch Erziehungswissenschaftler können mit dem Begriff "Erziehungsfähigkeit" nichts anfangen. Er wird ebenso wie in der wissenschaftlichen Psychologie in den Erziehungswissenschaften nicht verwendet.

Daraus ergeben sich.....

Offene Fragen:

Woher stammt der Begriff der "Erziehungsfähigkeit", wenn weder die wissenschaftliche Psychologie, noch die Erziehungswissenschaften diesen Begriff überhaupt nicht verwenden und nicht kennen?

Kann denn eine Eigenschaft der "Erziehungsfähigkeit" überhaupt mit wissenschaftlichen Methoden erfasst werden, wenn Stand der Wissenschaft ist, dass die Wissenschaften diesen Begriff nicht verwenden und es dazu auch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt?.

Diesen Fragen gehe ich in einem gesonderten Blogbeitrag nach.

 


 


 

 

 

 


Psychologische Gutachten in Familiengerichtsverfahren - das Beweisthema und die Hypothesenprüfung (Teil 1)

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